Habe mir heute erstmals „Achtung Reichelt“ angesehen, den Videoblog des ehemaligen Chefredakteurs der BILD-Zeitung, der angeblich schon über 150.000 Abonnenten erreicht. In diesem Blog fällt er über Angela Merkel her und zerpflückt ihre 16ährige Kanzlerschaft wie ein Raubtier sein Opfer: Den Ausstieg aus der Atomenergie „als einziges Land“, das Verbot von Fracking in Deutschland, den Bau von Nordstream 1 und 2, das Versprechen, Energie werde bezahlbar bleiben.
Dass die Ex-Kanzlerin (aber nicht sie allein) für unsere Energieabhängigkeit von Russland die Hauptverantwortung trägt, ist ja prinzipiell richtig, aber die Aggressivität und die Sprache seines Youtube-Kanals ist bestürzend. Erschreckende 17.000 Likes und 4000 Kommentare bestätigen sein Konzept, wenn diese Zahlen von echten Abonnenten stammen. Von Gerhard Schröder ist in seinem Video mit keinem Wort die Rede. Mit Videoausschnitten unterfüttert Reichelt seine These in perfekter Demagogie. Nur mit Lügen habe die „Kalt-Kanzlerin“ Merkel ihre Wiederwahl manipuliert und die Medien hätten sie dabei willfährig unterstützt. Sein Fazit: Deutschland ist dem Untergang geweiht und Merkel ist schuld. Nun ja, warten wir mal ab, ob Deutschlands Wirtschaft wirklich abstürzt.
Als Zeuge dient übrigens ausgerechnet Donald Trump, der – auch per Video belegt – die Deutschen beim Nato-Gipfel vor dieser Energieabhängigkeit gewarnt hat. Nur gibt es Beweise, dass Trump sich selbst von Putin und dessen Entourage finanziell abhängig gemacht hat. Trump war vor seiner Wahl praktisch pleite, als russische Oligarchen den Trump-Tower mieteten. Ich empfehle hierzu Timothy Snyders Buch „Der Weg in die Unfreiheit“.
Die 16jährige Kanzlerschaft von Angela Merkel, die vom Time Magazin zur Frau des Jahres gekürt worden war, hatte sicherlich ihre Schwächen, aber ihre Politik war insgesamt erfolgreich. Ihre Zustimmungswerte waren bist zuletzt die besten von allen Politikern. Als Putin vor dem Deutschen Bundestag eine Rede gehalten hatte und ihm alle zu Füßen lagen, konnte sich niemand vorstellen, dass dieser Mann einen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun brechen würde. Michail Gorbatschow hatte mit dem Mauerfall und seiner Zustimmung zur Wiedervereinigung die Hoffnung der Deutschen und ihrer Politiker auf ein endgültiges Ende des kalten Krieges geweckt und Putin galt anfangs lange Zeit als Garant für die Stabilität dieser Entwicklung einer deutsch-russischen Freundschaft. Kann man das der Kanzlerin (und zahlreichen SPD-Politikern) vorwerfen? Ja, vielleicht wäre größeres Misstrauen und eine strategisch bessere Verteilung der Energiequellen angebracht gewesen. Aber Politik kann sich eben auch irren. Mir war jedenfalls äußerst unwohl, als ich Reichelts populistische Hasstiraden gegen Merkel mit einer Mischung aus Respekt (über die mit Videoeinspielungen belegten Behauptungen) und Abscheu (über sein aggressive Sprache) erlebt habe.