Selten gab es einen solchen Hype an Umfragen vor einer Bundestagswahl wie in diesen Wochen. Nahezu tägliche Umfrageergebnisse haben die Coronazahlen in der Berichterstattung fast überholt. Seit 1980 hat sich die Zahl der Umfragen und die Berichterstattung darüber verzehnfacht, so der Politikwissenschaftler Frank Brettschneider.
Schon früher gab es immer mal wieder die Diskussion, ob Umfrageergebnisse womöglich auch die Wahlen beeinflussen. ZDF und ARD haben sich eine Selbstbeschränkung auferlegt: Sie wollen ab einer Woche vor den Wahlen keine Umfragen mehr veröffentlichen. Warum, wenn nicht zu befürchten wäre, dass Wahlergebnisse davon beeinflusst werden? In Frankreich, Portugal und Italien dürfen Umfrageergebnisse in den letzten Wochen vor den Wahlen überhaupt nicht mehr veröffentlicht werden.
Hinzu kommt, dass die Umfrageergebnisse teilweise erheblich voneinander abweichen, obwohl ja alle Institute behaupten, repräsentativ zu sein. Da kommt dann zum Beispiel heraus, dass die CDU am 7. September bei Forsa 19 Prozent, am 8. September bei Allensbach 25 Prozent und am 9.September bei Kantar 22 Prozent erreicht. Wie kann es sein, dass innerhalb von zwei Tagen so gravierende Unterschiede herauskommen? Sechs Prozent Unterschied sind bei 60 Millionen Wahlberechtigten immerhin 3,6 Millionen.
Ich erinnere mich an Gespräche mit der legendären Publizistin Elisabeth Noelle-Neumann (gestorben 2010), in denen sie sich bitter über unwissenschaftliche Methoden anderer Institute beklagte. Ein Dorn im Auge war ihr dabei vor allem das Forsa-Institut. Sie bemängelte neben der Stichprobenauswahl vor allem, dass bei diesem Institut suggestive Fragen gestellt würden, die die Antworten beeinflussten. Michael Hanfeld von der FAZ hat heute, am 11.September, Berichte von befragten Teilnehmern nach dem Fernsehduell der drei Kanzlerkandidaten veröffentlicht, die Zweifel am Ergebnis („Scholz hat gewonnen“) wecken. Sie waren in einer ersten Befragung angesprochen worden, aber aus der zweiten Befragung herausgefallen. Ihr Meinung wurde also nicht berücksichtigt. Forsa Chef Manfred Güllner behauptet, es habe sich nur um weniger als 1 Prozent der Befragten gehandelt und die Repräsentativität der Blitzumfrage sei dadurch nicht gefährdet. Trotzdem wüsste man gerne, warum Forsa in der aktuellen Sonntagsfrage 19 Prozent für die CDU ermittelt, während Allensbach auf 25 Prozent kommt. Dazu müssten sich Journalisten wohl mit der Relevanz von Bevölkerungs-Stichproben befassen, aber so tief will kaum einer graben.
Vielfach gibt es den Irrglauben, dass eine Befragung von 1000 Menschen automatisch repräsentativ ist. Tatsächlich gilt das ja nur, wenn diese Auswahl den Merkmalen der Grundgesamtheit entspricht. Andererseits kann unter dieser Voraussetzung auch die Befragung von 500 Bürgern repräsentativ sein. Gerd Bosbach, Professor für Statistik an der Hochschule Koblenz zum Deutschlandfunk: „Der normale Bürger hat das statistisch-empirische Hintergrundwissen nicht, und er bekommt es auch nicht beigebracht, weil die, die Meinungsergebnisse bekanntgeben, wollen, dass ihr Ergebnis einfach so auch akzeptiert wird. Die haben gar kein Interesse daran, die Ungenauigkeiten der Ergebnisse, die Verzerrungen der Ergebnisse darzustellen.“
Im Kreuzfeuer der Kritik stehen auch immer wieder Online-Umfragen von Civey und YouGov. Dort rekrutieren sich die Teilnehmer an der Befragung selbst. Das hält laut Deutschlandfunk auch der Duisburger Sozialforscher Rainer Schnell für das entscheidende Problem bei Online-Umfragen: „Selbst rekrutierte Personen unterscheiden sich nach den Untersuchungen in der Psychologie systematisch wie Freiwillige von Nicht-Freiwilligen, und das heißt, die sind im Durchschnitt ein bisschen jünger, ein bisschen intelligenter, ein bisschen sozialer, ein bisschen neurotischer.“ Man muss sich wundern, dass renommierte Medien wie der Spiegel trotzdem mit Online-Instituten zusammenarbeiten – wahrscheinlich, weil sie viel billiger als klassische Institute sind. Civey verweist auf seiner Website darauf, dass die im Internet gewonnenen Teilnehmer am Ende eines Auswahlprozesses entsprechend der amtlichen Demografie qualitativ und quantitativ gewichtet werden, und so die Repräsentativität gesichert sei. Das kann man glauben oder nicht, am Ende werden die Wahlen selbst zeigen, ob diese Art von Umfragen funktioniert.
Ein systematisches Problem bei Wahlumfragen ist die Berücksichtigung der hohen Zahl unentschlossener Wähler, derzeit noch etwa ein Viertel aller Wahlberechtigten. Somit können auch die Umfragen in diesem Jahr schwer daneben liegen., wenn sie die SPD nun vor der CDU sehen. Die Aufholjagd von Olaf Scholz in den Umfragen könnte sich als Fata Morgana erweisen, wenn die Unentschlossenen am Wahltag ihre Stimme abgeben, zumal er zunehmend in der Kritik seiner Verantwortlichkeit als Finanzminister für Wirecard, Cum-Ex-Skandal und neuerdings der Geldwäsche-Aufsicht steht. In den letzen Jahren lagen Umfragen gleich dreimal vollkommen daneben: Bei der Volksabstimmung über den Brexit, der Wahl des US-Präsidenten und bei den Wahl in Sachsen Anhalt.
Ich habe gestern meine Briefwahlstimme abgegeben. Das heißt, zwei Wochen vor der Wahl habe ich mich festgelegt: Mein zentrales Motiv: Ich will keine Steuererhöhungen und keine weitere Umverteilung. Das versprechen nur zwei Parteien. Damit hat der Wahlkampf ab jetzt keinen Einfluss mehr auf meine Wahlentscheidung. Der Anteil der Briefwähler bei Bundestagswahlen ist von 18,7 Prozent (2005) auf 28,6 Prozent (2017) gestiegen. Für 2021 erwartet der Bundeswahlleiter Georg Thiel einen weiteren „erheblichen Anstieg“ wegen Corona. Das sind die Entschlossenen. Nun kommt es auf die Unentschlossenen an. Wollen wir hoffen, dass sie sich nicht allein durch Umfragen beeinflussen lassen. Inhalte sind wichtiger als Umfragen.